Zwischen Hungerwahn und Fressanfällen
22.01.2019
Essstörungen bei Kindern und Teenagern sind im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Dauerthema. Beim 5. Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Innsbruck stehen deshalb so genannte "Eating disorders" im Mittelpunkt.
Pro Jahr werden rund 70 PatientInnen mit Essstörungen ambulant und stationär an der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Im stationären Bereich entspricht das einer Auslastung von über 100%. Bei 15% der Jugendlichen benötigt es mehrere stationäre Aufenthalte, damit ein nachhaltiger Veränderungsprozess stattfinden kann.
„Meist treten Essstörungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren auf, in Einzelfällen aber auch viel früher. Unsere jüngsten PatientInnen waren erst neun Jahre alt", erzählt Kathrin Sevecke, ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie. Die Bandbreite der Essstörungen reicht von PatientInnen mit Anorexie (Magersucht) über Bulimie (Ess-Brech-Sucht) bis zur Binge-eating-Störung (Essattacken und damit verbundenes Übergewicht). Mischformen und Übergänge bei den einzelnen Essstörungen sind keine Seltenheit. Das Besondere an der auf Essstörungen spezialisierten Station ist, dass Jugendliche mit Anorexie gemeinsam mit schwer übergewichtigen Jugendlichen behandelt werden.
Die Ursachen für die Entstehung von Essstörungen sind vielfältig und lassen sich nicht auf einen Faktor eingrenzen. Genetische Faktoren, individuelle Faktoren wie das Erleben eines Traumas oder hohes Kontrollbedürfnis, familiäre Schwierigkeiten, Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen, aber auch mediale und gesellschaftliche Einflüsse spielen bei der Entstehung von Essstörungen mit.
Vielfältiges Therapieprogramm
So komplex die Entstehung einer Essstörung ist, so vielschichtig ist auch die Therapie. „In der Praxis hat sich ein interdisziplinäres Behandlungskonzept bewährt – bestehend aus Psychotherapie (Einzel und Gruppe), Kunsttherapie, Tanztherapie, Physiotherapie, Sozialarbeit, Ergotherapie, Ernährungstherapie, Reittherapie und gruppenpädagogischen Angeboten wie Ausflügen", führt Sevecke aus.
Eine Ernährungstherapie hilft den Betroffenen, einen gesunden Zugang zu Nahrungsmitteln und dem Essverhalten zu finden. Das Behandlungskonzept werde gut angenommen, so Sevecke, Zwangsernährung gebe es schon lange nicht mehr. „Wir wollen mit unserer Arbeit Rahmenbedingungen schaffen, welche eine Veränderung des auffälligen Essverhaltens möglich machen. Wir möchten PatientInnen einen ,normalen‘ und ,gesunden‘ Umgang mit Mahlzeiten vermitteln und ein Kalorienzählen vermeiden. Deshalb sind wir davon abgekommen, mit den PatientInnen über eine bestimmte Kalorienzahl zu sprechen. Doch selbstverständlich dokumentieren wir den Gewichtsverlauf. Es geht um einen bewussten Umgang mit Nahrung. Das Kalorienzählen kennen die meisten unserer Patientinnen und Patienten aus dem Alltag. Dieses Muster möchten wir durchbrechen", erläutert Sevecke.
Gute Heilungschancen
Die Heilungschancen bei Essstörungen seien gut, doch leider kommt es auch zu Rückfällen. „Im Klinikalltag können sich die PatientInnen oft auf ausreichendes und regelmäßiges Essen einlassen. Im Alltag zuhause fallen die Patienten und Patientinnen aber manchmal wieder in alte Verhaltensmuster zurück. Zur Unterstützung für die Zeit nach der stationären Therapie bieten wir nun auch ein Nachsorgeprogramm an", so Sevecke.
Grundsätzlich lässt sich aber festhalten: Je früher die Erkrankung erkannt wird und je klarer die Bezugspersonen im Umgang damit sind, umso besser lässt sie sich behandeln. Bereits bei den ersten Anzeichen sollte ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. „Wenn der oder die Betroffene schnell Gewicht verliert, Essen versteckt, die Nahrungsaufnahme in Gesellschaft verweigert und vermehrt Sport betreibt, könnte das auf die Entwicklung einer Essstörung hinweisen", warnt Sevecke.
Der 5. Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Innsbruck (25. und 26. Jänner 2019) trägt den Titel „Hungerwahn und Fressanfälle – Essstörungen im Kindes- und Jugendalter" und behandelt neue Erkenntnisse in Diagnostik und Behandlung von Essstörungen.
Rund 300 TeilnehmerInnen aus dem deutschsprachigen Raum haben sich angekündigt, der Kongress ist bereits seit September ausgebucht.
Foto (tirol kliniken/Ainetter): (v.l.n.r.) Kathrin Sevecke (Primaria der Abteilung und Direktorin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie in Hall und Innsbruck), Sigrid Hartlieb (Oberärztin der Station für Essstörungen, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie am LKH Hall), Alice Angermann (Diätologin, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie am LKH Hall)