Ein Ort des Erinnerns und Lernens
10.10.2019
360 PatientInnen sind während der Zeit des Nationalsozialismus in den Jahren 1940-1942 aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol abtransportiert und ermordet worden. Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder. Für diese Menschen, ihre Angehörigen und zukünftige Generationen wird jetzt ein Gedenkort entstehen.
„Das Gedenken ist aber nur ein Aspekt", erklärt Lisa Noggler-Gürtler, die Kuratorin, „wir wollen die ermordeten Menschen sichtbar machen, ihnen Namen geben und gleichzeitig Informationen anbieten".
„Ich bedanke mich bei den tirol kliniken und allen involvierten Personen, die hier einen passenden Rahmen für dieses Gedenken gefunden haben," sagt Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg im Rahmen der heutigen Projekt-Präsentation „und ich darf auch stellvertretend für unseren Landeshauptmann die Bedeutung dieses Projekts hervorheben, denn die Erinnerung an die Opfer soll durch diesen Gedenkort wachgehalten werden".
Der Entwurf, der jetzt umgesetzt wird, sieht eine Fläche mit 360 Metall-Stelen vor, versehen mit den Daten jedes Opfers. Ergänzend werden auf einem Multimedia-Terminal ausgewählte Informationen und kurze Biografien, zum Teil analog zum Teil digital sowie über eine App zur Verfügung stehen. Bei den Texten hat sich das Projektteam um Barrierefreiheit bemüht (Braille-Schrift, Leichte Sprache etc.).
„Ich möchte mich bei der gesamten Projektgruppe rund um Lisa Noggler-Gürtler und Oliver Seifert für den Entwurf und die Umsetzung herzlich bedanken", so der Geschäftsführer der tirol kliniken Stefan Deflorian, „was jetzt hier in Hall entsteht, ist etwas, das genau auf unsere Zeit und genau auf diesen Ort zugeschnitten ist."
„Wir müssen bedenken, dass das hier ein Krankenhaus ist und eine laufende Psychiatrie," ergänzt auch der Ärztliche Direktor des LKH Hall, Christian Haring, „und genau darauf ausgerichtet entsteht der Gedenkort - kein Mahnmal. Das könnte überall stehen. Es entsteht ein Ort, der genau für uns, unsere Patienten und alle Angehörigen richtig ist".
Oliver Seifert ist Historiker am Landeskrankenhaus Hall und arbeitet seit vielen Jahren die Geschichte des Hauses und der Psychiatrie im Besonderen auf. „Ich habe seit vielen Jahren mit Angehörigen von ermordeten Patienten Kontakt und wir haben dieses Projekt auch als erstes den Angehörigen präsentiert. Für sie und andere Zielgruppen entsteht nun ein Ort zum Trauern, Gedenken und Informieren. In der NS-Zeit wollte man psychisch und geistig beeinträchtigte Menschen auslöschen, im wahrsten Sinne des Wortes. Um die Ermordeten vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren, bekommen sie am Gedenkort nun ihre Namen zurück."
Gesamte Projektgruppe:
- Oliver Seifert, Historisches Archiv, Landeskrankenhaus Hall
- Christian Haring, Landeskrankenhaus Hall
- Lisa Noggler-Gürtler, Projektsteuerung und Kuratierung
- Celia Di Pauli, Eric Sidoroff, Stefan Maier, Szenografie
- Rudolf Mair, Landschaftsarchitektur
- Niko Hofinger, AltNeuland Bildschirmwerkstatt, Historiker
- Andrea Sommerauer, Historikerin
Historischer Hintergrund
Die NS-Euthanasie war der erste systematisch durchgeführte Massenmord im Nationalsozialismus. Menschen mit einer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung wurden planmäßig ermordet. Verharmlosend wurde die Mordaktion als Euthanasie bezeichnet, was wörtlich so viel wie „guter Tod" bedeutet. Mit einem guten Tod hatte dieser Krankenmord nichts zu tun.
Eine auf den 1. September 1939, dem Tag des Kriegsbeginns, rückdatierte „Führerermächtigung" markiert den Beginn des Tötens. Aus Sicht des Nationalsozialismus sollte der Krieg nicht nur nach außen, sondern auch nach innen geführt werden. Bevölkerungsgruppen, die rassisch und biologisch unerwünscht waren, wie etwa psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, sollten ermordet werden. Von den Maßnahmen besonders betroffen waren die Patientinnen und Patienten der großen landespsychiatrischen Anstalten, wie jener in Hall, aber auch die BewohnerInnen von Versorgungshäusern und anderen sozialen Betreuungseinrichtungen.
Beginnend am 10. Dezember 1940 wurden bis Ende Mai 1941 mit insgesamt drei Transporten 300 PatientInnen aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall im Rahmen der sogenannten „Aktion T4" abtransportiert und in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz ermordet. Im August 1941 wurde die „Aktion T4" auf öffentlichen Druck vor allem von Angehörigen und von Seiten einiger Kirchenvertreter offiziell eingestellt. Dennoch wurden ein Jahr später aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall mit einem vierten und letzten Transport weitere 60 PatientInnen abgeholt und in der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart-Linz mit überdosierten Medikamenten ermordet.
Insgesamt wurden aus dem damaligen Gau Tirol-Vorarlberg auf diese Weise nachweislich 707 Menschen abtransportiert und ermordet, davon alleine 360 aus der Haller Anstalt.
Bisherige Aufarbeitung
2003: Veranstaltung mit dem Titel „Ich war in Hall. Der 63-Jahre-Rückblick" organisiert vom Verein „ZeitLupe" gemeinsam mit der Kulturinitiative „Wäscherei P" des Psychiatrischen Krankenhauses Hall. Dort wird das Schicksal der NS-„Euthanasie"-Opfer aus Hall thematisiert und im Zuge einer Diskussion die Öffnung des Krankenaktenarchivs für die Angehörigen und die Forschung angekündigt.
2005: Sichtung, Sicherung und Beginn der Archivierung des Aktenmaterials durch eine Projektzusammenarbeit des damaligen Psychiatrischen Krankenhaus Hall mit dem Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie in Innsbruck.
2005: Kunstprojekt „Temporäres Denkmal" des Künstlers Franz Wassermann im Gedenken an die 360 Euthanasieopfer aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall.
2008-2012: Interreg IV-Projekt „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830" der Institute für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie und für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck u.a. in Kooperation mit dem Psychiatrischen Krankenhaus Hall. Ein Ergebnis des Projektes:
2011-2013: Wanderausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten" mit einem eigenen Bereich zur NS-Euthanasie.
2011-2014: Expertenkommission und Forschungsprojekt zur Untersuchung der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Landeskrankenhauses (Psychiatrie) Hall in Tirol. Exhumierung und Untersuchung des ehemaligen Anstaltsfriedhofs.
2014: Wiederbestattung der sterblichen Überreste am städtischen Friedhof in Hall in einem eigens errichteten Grabmal.
2015: Einweihung einer Gedenkmauer am Gelände des Landeskrankenhauses Hall in Erinnerung an die auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof bestatteten PatientInnen.
2015: Durchführung eines Künstlerwettbewerbs zur Gestaltung eines Denkmals in Erinnerung an die 360 Opfer der NS-Euthanasie.
2016: Beauftragung einer Projektgruppe zur Gestaltung eines Denkmals für die 360 Opfer der NS-Euthanasie.
2019: Beginn der Bauarbeiten für das Denkmal.
2020: Enthüllung
Fotos:
Visualisierung (Quelle: Celia Di Pauli, Stefan Maier, Eric Sidoroff)
Gruppe: Oliver Seifert, Lisa Noggler-Gürtler, Bernhard Tilg, Stefan Deflorian, Christian Haring (Quelle: tirol kliniken/Schwamberger)